Heimkehr

Wo sind deine alten Wellen, o Fluß,
Und wo sind euere runden Blätter,
Ihr Akazienbäume der Jugend,
Und wo der frische Schnee
Der entwanderten Winter ?
Heim kehr ich und finde nicht heim.
Es haben die Häuser sich anders gekleidet,
Schamlos versammelt sind sie
Zu unkenntlichen Straßen,
Es haben die Zopf tragenden
Mädchen meiner scheuesten Liebe
Kinder bekommen.


Albert Ehrenstein (1886 - 1950)

 

Mondnacht

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nur träumen müßt.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.


Joseph von Eichendorff (1788 - 1857)

 

Windgriff

Manche Wörter
leicht
wie Pappelsamen
steigen
vom Wind gedreht
sinken
schwer zu fangen
tragen weit
wie Pappelsamen
Manche Wörter
lockern die Erde
später vielleicht
werfen sie einen Schatten
einen schmalen Schatten ab
vielleicht auch nicht


Hans Magnus Enzensberger (* 1929)

 

Die Scheiße

Immerzu höre ich von ihr reden
als wär sie an allem schuld.
Seht nur, wie sanft und bescheiden
sie unter uns Platz nimmt !
Warum besudeln wir denn
ihren guten Namen
und leihen ihn
dem Präsidenten der USA,
den Bullen, dem Krieg
und dem Kapitalismus ?

Wie vergänglich sie ist,
und das was wir nach ihr nennen
wie dauerhaft !
Sie, die Nachgiebige,
führen wir auf der Zunge
und meinen die Ausbeuter.
Sie, die wir ausgedrückt haben,
soll nun auch noch ausdrücken
unsere Wut ?

Hat sie uns nicht erleichtert ?
Von weicher Beschaffenheit
und eigentümlich gewaltlos
ist sie von allen Werken des Menschen
vermutlich das friedlichste.
Was hat sie uns nur getan ?


Hans Magnus Enzensberger (* 1929)

 

Einführung in die Handelskorrespondenz

Mit freundlichen Grüßen
Mit grämlichem Hüsteln
Mit christlichem Frösteln
Mit fiesen Grimassen
Mit geilen Finessen
Mit feistem Gewinsel
Mit schwülem Gefasel
Mit schweißigen Nüstern
Mit heiserem Schmatzen
Mit schleimigem Kitzeln
Mit lüsternen Fratzen
Mit fleischigen Küssen
Mit schäumenden Fisteln
Mit freudigem Geifern
Mit scheußlichen Fotzen
Mit fröhlichem Knirschen
Mit kreischenden Flüchen
Mit freundlichen Grüßen


Hans Magnus Enzensberger (* 1929)

 

Rondeau

Reden ist leicht.

Aber Wörter kann man nicht essen.
Also backe Brot.
Brot backen ist schwer.
Also werde Bäcker.

Aber in einem Brot kann man nicht wohnen.
Also bau Häuser.
Häuser bauen ist schwer.
Also werde Maurer.

Aber auf einen Berg kann man kein Haus bauen.
Also versetze den Berg.
Berge versetzen ist schwer.
Also werde Prophet.

Aber Gedanken kann man nicht hören.
Also rede.
Reden ist schwer.
Also werde was du bist.

und murmle weiter vor dich hin,
unnützes Geschöpf.


Hans Magnus Enzensberger (* 1929)

 

Angst und Zweifel

Zweifle nicht
an dem
der dir sagt
er hat Angst
Aber hab Angst
vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel


Erich Fried (1921 - 1989)

 

Zwischenfall

Ich schreibe dir
noch immer
daß ich dich liebe

Ich schreibe
daß ich dich liebe
und daß du nicht da bist

aber daß ich nicht allein bin:
denn ich
sitze neben mir

Ich sehe mich an
und nicke
und strecke die Hand aus

Ich rühre mich an
und freue mich
daß ich noch da bin

Ich bin froh
daß ich nicht allein bin
wenn ich dir schreibe

Ich hebe den Kopf
und sehe:
Ich bin nicht mehr da

Bin ich
zu dir gegangen ?
Ich kann nicht mehr schreiben


Erich Fried (1921 - 1988)

 

Du sollst dir kein Bildnis machen

Es ist bemerkenswert, daß wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am wenigsten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. (...)

Unsere Meinung, daß wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedesmal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind - nicht, weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er muß es sein. Wir können nicht mehr ! Wir künden ihm die Bereitschaft, auf weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfaßbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, daß unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei.

"Du bist nicht", sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: "wofür ich dich gehalten habe."

Und wofür hat man sich denn gehalten ?

Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, das ist der Verrat. (...)


Max Frisch (1911 - 1991)

 

Gestern

Jestern
kam eena klingeln
von Tür zu
Tür. Hat nuscht
jesagt. Kein

Ton. Hat so schräg
sein Kopf
jehalten, war
still. Hat nuscht
jesagt,

als wenn der
von jestern
war
und nur mal
rinnkieken wollte,
wies sich so
lebt.


Günter Bruno Fuchs (* 1928)